Haut
Sonderdruck
aus dem in der Schriftenreihe des Bundesministers für Atomkernenergie
und Wasserwirtschaft unter dem Titel "Die Mutationsrate bei Versuchstieren und
beim Menschen" erschienenen Heft 17 "Strahlenschutz".
In dem Gesamtheft sind die auf dem internationalen Genetiker-Symposium
vom 27. Februar bis 1. März 1959 in Barsinghausen/Hannover gehaltenen Referate
mit Diskussionsbeiträgen abgedruckt. Außerdem enthält die Schrift,
ergänzend zu Heft 5 "Strahlenschutz", weitere Referate mit
Diskussionsbeiträgen über Mutationsfragen, die vor dem Arbeitskreis IV/4
"Strahlenbiologie" der Deutschen Atomkommission gehalten worden sind.
Die Abschätzung der Erbschädigung durch Bestrahlung menschlicher
Population beruht auf der Messung der mutativen Strahlungswirkung beim
Menschen. Da in den vorangegangenen Vorträgen die natürlichen Mutationen beim
Menschen und die künstlichen Mutationen beim Tier behandelt wurden, befassen
wir uns jetzt lediglich mit den Methoden, die uns zur Zeit die Feststellung
solcher Mutationen gestatten, die durch Strahlungen hervorgerufen sind.
Je nachdem beabsichtigt ist, Genmutationen oder somalische Mutationen
zu studieren, bieten sich verschiedene Untersuchungsmethoden an.
Haut
A - Feststellung von Genmutationen
Da die Feststellung von Genmutationen auf der Beobachtung erblicher
Anomalien beruht, die bei der Nachkommenschaft bestrahlter Individuen
auftreten, besteht die Methode in einem Vergleich dieser Kinder mit der
Nachkommenschaft nichtbestrahlter Individuen.
Die bei dieser Art von Untersuchungen auftretenden Schwierigkeiten
bestehen vor allem in der Ungenauigkeit der Schätzung der von den Gonaden der
be-strahlten Individuen tatsächlich erhaltenen Strahlungsdosis. Unter den
hierzu erschienenen Veröffentlichungen geben lediglich diejenigen von I. I.
Kaplan (3) hinreichend genaue Angaben, denn es handelt sich dort um
therapeutische Bestrahlungen, die auf die Ovarien zentriert waren.
Die zweite Schwierigkeit besteht darin, eine "korrekte"
Vergleichsgruppe zu erhalten. In unserer Untersuchung (Turpin, Lejeune und
Rethore) (2) haben wir die Kinder von gleichen Eltern verglichen, die vor und
nach der Behandlung eines der Elternteile geboren wurden. Bei anderen
Untersuchungen (Neel, Schull und Mitarbeiter [1] und Macht und Lawrence [5],
Tanaka, Katumi und Ohkura [6]) wurde eine ähnliche Vergleichsgruppe gewählt.
Beide Vergleichsgruppen haben die ihnen eigenen Fehler und die beste Methode
würde wohl darin bestehen, sie gemeinsam zu verwenden.
Die dritte Schwierigkeit betrifft die Auswahl der Kriterien, nach
denen die Kinder verglichen werden.
Das systematische Studium einer einzigen Mutantenklasse ist nicht
möglich, denn sie hat keine Aussicht, signifikant zu sein.
Auch bei einer Anomalie von sehr großer Häufigkeit (1/1000) und bei
Annahme einer Verdoppelung dieser Häufigkeit durch die Bestrahlung der Eltern
müßte die Gruppe etwa 15000 Personen und 15000 Kinder der Bestrahlten
umfassen, um einen signifikanten Unterschied zu erhalten. Bei geringerer
Häufigkeit (in der Größenordnung von 2x10-5), wie sie bei
dominanten Mutationen angetroffen wird, wird der Umfang der erforderlichen
Gruppe völlig unerreichbar.
Wenn es sich um eine Anomalie mit einer Häufigkeit p (z. B.
Achondroplasie oder Marfan-Syndrom) handelt, muß die Größe etwa 12x p sein,
um sicherzustellen, daß die Anomalie bei den Kindern der Bestrahlten doppelt
so häufig auftritt. Tatsächlich ist die ganze Erscheinung aber noch
komplexer. Die beobachteten Fälle sind nicht nur neue Mutationen, sondern die
Summe vererbter Fälle plus neuer Mutationen. Dies bedingt eine weitere
Erhöhung der Gruppengröße. Außerdem ist die Tatsache einer genauen
klinischen Diagnose des Merkmals von außerordentlicher Bedeutung, vor allem,
wenn es sich um Untersuchungen von sehr großen Gruppen handelt.
Bei der Unmöglichkeit, die Erhöhung der Mutationsrate an einem
bekannten Lokus zu studieren, sind wir gezwungen, das Resultat einer Summe von
Mutationen zu untersuchen.
In dieser Hinsicht können drei Klassen von Mutanten unterschieden
werden:
1. Die dominanten Letalfaktoren, die eine Sterilität, eine
verringerte Fruchtbarkeit, eine Erhöhung der Fehlgeburten, eine Erhöhung der
Neugeborenen-sterbiichkeit und eine Erhöhung der Totgeburten mit sich bringen
können. Aus diesen diagnostischen Gründen läßt sich nur die
Neugeborenensterblichkeit und die Totgeburtenhäufigkeit genau beobachten.
Leider macht der Einfluß zahlreicher nichterblicher Faktoren (Alter der
Mutter, Geburtenrang, soziale Verhältnisse usw.) die Schlüsse, die man aus
einer solchen Untersuchung ziehen kann, sehr fraglich.
2. Ungünstige Gene, die dadurch sichtbar werden, daß sie dominante
Erbmerkmale hervorrufen, die durch angeborene Mißbildungen festgestellt werden
können.
3. Rezessive Letalfaktoren, die mit dem Geschlecht in Verbindung
stehen oder durch das Geschlecht kontrolliert werden, indem sie das
Geschlechtsverhältnis bei der Geburt variieren lassen.
Sehr schematisch kann das Resultat der bisherigen Untersuchungen,
soweit sie veröffentlicht sind, in nebenstehender Übersicht zusammengefaßt
werden.
Haut
Geschlechtsverhältnis
Man sieht, daß das einzige Kriterium, bei dem man ein einigermaßen
überzeugendes Ergebnis feststellen kann, das Geschlechtsverhältnis in der
Nachkommenschaft bestrahlter Mütter ist. Dieses Merkmal hat den Vorteil, daß
es auf der Gesamtgruppe beruht, daß die Information einfach zu erhalten ist
und selbst durch schriftliche Befragung gesammelt werden kann, ohne daß ein
wesentlicher Fehler das Ergebnis fälscht. Unsere persönliche Erfahrung in
Paris zeigt, daß bei einer späteren Nachprüfung am Wohnort die von den
Eltern ausgefüllten Fragebogen keinen Fehler in bezug auf die
Geschlechtsangabe zeigten. Dagegen waren die Angaben über Fehlgeburten und
selbst über Totgeburten oft unvollständig und z. T. auch falsch.
Das Geschlechtsverhältnis der Nachkommenschaft bestrahlter Eltern
scheint also zur Stunde einen doppelten Vorteil zu bieten:
- es ist das einzige Merkmal, bei dem wir "etwas" beobachtet
haben
- es ist am einfachsten und am billigsten zu untersuchen.
Beobachtete Wirkung | Bestrahlung infolge von
Kriegsereignissen | Berufliche Bestrahlung
(Röntgenologen) | Therapeutische Bestrahlung |
Sterblichkeit im Uterus | (1) Erhöhung nicht
signifikant | (4) (5) Erhöhung nicht signifikant (6) Erhöhung
signifikant | (3) nicht beobachtet (2) nicht beobachtet |
Mißbildungen bei der Geburt | (1) keine signifikante
Wirkung beobachtet | (5) Erhöhung signifikant. Cardiopathten
angeboren*) | (2) keine signifikante Wirkung (3) keine Wirkung
beobachtet |
Geschlechtsverlhaltnis |
Nach Bestrahlung der Mutter | (1) Verminderung der
Knabenzahl*) | | (2) (3) Verminderung der Knabenzahl
(begrenzt)*) |
Nach Bestrahlung des Vaters | (1) Erhöhung der
Knabenzahl | (5) Verminderung der Knabenzahl (6) Erhöhung der
Knabenzahl*) | (3) Erhöhung der Knabenzahl (bei starken Dosen) (7)
Verminderung der Knabenzahl (bei schwachen Dosen)**) |
(*) bedeutet, daß die augenblicklichen
Ergebnisse statistisch signifikant sind. (*: P < 0.05 und **: P <
0.01). |
Haut
Schwierigkeiten
Das Geschlechtsverhältnis hat aber auch einen großen Nachteil. Wir
wissen überhaupt nicht, was die beobachteten Abweichungen bedeuten. Es ist
zwar naheliegend, daran zu denken, daß es sich bei den bestrahlten Müttern um
rezessive Mutationen handelt, die an das Geschlecht gebunden sind, oder um
ungünstige Mutationen, die vom Geschlecht kontrolliert werden. Unter dieser
Annahme und unter Berücksichtigung der bekannten Wirkung des mütterlichen
Alterns kann eine verdoppelnde Dosis von 30 r direkt berechnet werden (Lejeune
und Turpin) (7).
Leider ist die Verwendung der beobachteten Daten nach einer
Bestrahlung des Vaters erheblich delikater. Hier scheint es nach der
vorangegangenen Übersicht, als ob die Richtung der Variation von der
Gesamtdosis oder gar von der Intensität der aufeinanderfolgenden Bestrahlungen
abhängt. Aus den japanischen Ergebnissen von Hiroshima und Nagasaki geht eine
solche Tendenz hervor, sie ist aber keineswegs signifikant. Sicherlich ruft
eine Bestrahlung des Vaters bei sehr kleinen Dosen eine Verschiebung des
Geschlechtsverhältnisses in demselben Sinn hervor, wie sie durch das Alter
hervorgerufen wird (Verringerung der Knabenzahl, Lejeune und Turpin) (7), aber
man kann den Widerspruch zwischen den Untersuchungen von Lejeune, Turpin und
Rethore (8) und denen von Tanaka und Koji (6) bei chronischen Bestrahlungen
nicht aus der Welt schaffen.
Als Abschluß dieser kurzen Übersicht über die Methode der
Feststellung von Genmutationen kann man sagen, daß im Verhältnis zu den
aufgetretenen Schwierigkeiten die Ergebnisse sehr gering und fragwürdig sind;
wenn das Geschlechtsverhältnis das ergiebigste Merkmal zu sein scheint, so
können seine Schwankungen doch nicht befriedigend erklärt werden.
Haut
Loeffler:
Am Ende dieser Sitzung möchte ich in Ihrer aller Namen noch einmal
unseren Dank aussprechen,
dem Menschen Balke, der uns einen Teil seines freien Wochenendes
geopfert hat, das er sonst vielleicht bei seiner Familie hätte verbringen
können, dem Kollegen Balke, der mit uns - das war eigentlich ein besonders
schönes Erlebnis - diskutiert hat,
dem Minister Balke, bei dem wir unsere Wissenschaft und unsere Sorge
aufgehoben wissen, der uns auch viel Arbeitsmöglichkeiten eröffnet hat, und
von dem wir wissen, daß er auch in Zukunft unserer wissenschaftlichen
Betätigung gewogen bleiben wird.
Unser Dank an Sie, Herr Minister, soll sein, daß wir bestrebt sein
werden, unsere wissenschaftliche Arbeit - soweit es in unseren Kräften liegt -
zu guten Ergebnissen und zu einem guten Ende zu führen.
Haut
B - Somatische Mutationen in vivo
Die somalischen Mutationen in vivo sind im Gegensatz zu den
Genmutationen praktisch nicht feststellbar, wenn sie im Zellstadium letal sind.
Wenn sie dagegen eine anomale Wachstumskapazität mit sich bringen, führen sie
zu strahlungsverursachten Neoplasien.
Eine kritische Analyse der vorhandenen Ergebnisse hat für die uns
hier interessierende Frage keine Bedeutung, wir möchten aber doch folgendes
bemerken:
1. Das Aufstellen einer Gleichung des Typs 1 Mutation (oder n
Mutationen) in einer Zelle (oder in n Zellen) = 1 Leukämie, wie dies als Basis
zur Abschätzung der genetischen Wirkung der Strahlung auf somalische Zellen
dient, ist zum mindesten gewagt.
2. Selbst wenn sich eine solche Gleichung als richtig herausstellen
sollte, muß man festhalten, daß nach den Ergebnissen von Court Brown und Doll
(9) eine verdoppelnde Dosis von 30 r für den Erwachsenen geschätzt wird,
während nach den Ergebnissen von Stewart und Webb (10) die verdoppelnde Dosis
etwa 3 r betragen soll, also für den Foetus im Uterus 10mal kleiner als für
den Erwachsenen ist.
Diese beiden Beobachtungen zeigen, daß wir nur gewisse Resultate der
hervorgerufenen somalischen Mutationen feststellen können, und daß keine
quantitative Angabe gemacht werden kann (vgl. Lejeune und Turpin) (11).
Außerdem macht die mögliche Existenz einer "Schwelle" die Situation für den
Genetiker, der die Zahl der strahlungsverursachten Mutationen messen möchte,
noch konfuser. Abgesehen von diesen Mutationen mit selektiver Wirkung (letale
oder neoplastische) können gewisse scheinbar neutrale Mutationen in naher
Zukunft vielleicht ein beseres Studienobjekt darstellen.
Die Arbeiten von Goudie (1957) (12) und diejenigen von Atwood (1959)
(13) scheinen zu zeigen, daß in dem Blut normaler Individuen gewisse
Blutzellen existieren, die ihre normalen Antigen-Eigenschaften verloren und
teilweise neue erworben haben. Diese Ausnahmezellen könnten das Ergebnis
somalischer Mutationen in erytropoietischem Stamm sein. Die Argumente von
Atwood (1958) und seine genaue Messung (durch radioaktive Zählung) der
Häu-figkeit anomaler Zellen lassen daran denken, daß dieser Umweg gestatten
könnte, eine gewisse Zahl somalischer Mutationen zu testen.
Immerhin muß man bemerken, daß nur die "regressiven" Mutationen
festgestellt werden können. Die Isolierungsmethode beruht auf der
Nicht-Agglutination durch das Anti-A mancher Zellen eines AB-Individuums, wobei
diese Zellen ihre übrigen spezifischen agglutinogenen Eigenschaften behalten
haben. Diese Zellen können also erscheinen als A2B oder OB usw. Ebenso
gestattet der Verlust des Antigens B, eine andere Sorte dieser Ausnahmezellen
festzustellen.
Jedenfalls ist es klar, daß eine Mutation einer Zelle 00 in AO, wenn
sie existiert, unmöglich bewiesen werden kann, da sie vom Organismus nicht
"toleriert" würde.
Diese Einschränkung, die einen erzwungenen Umweg bei der Beurteilung
dieser Mutationen erfordert, wirft die Frage auf, ob es sich hier wirktich um
Genänderungen handelt oder, was ebenfalls plausibel erscheint, um Verluste auf
Chromosomen-Ebene.
Im übrigen weist die Entdeckung von Änderungen dieser Art bei
gewissen Leukosen (Salmon und Mitarbeiter, 1958) (14) auf das große Problem
der Anti-gen-Signalisierung bei der Geweberegulierung der Säugetiere.
Trotz dieser vielen Unbekannten bleibt doch als ein nicht geringer
Vorteil der Methode von Atwood die Möglichkeit, die Rate dieser wahrscheinlich
somalischen Mutationen als Folge therapeutischer Bestrahlung oder der Anwendung
radioaktiver Isotope in vivo zu studieren.
Haut
C - Untersuchung in vitro
Die Entwicklung von Kulturen menschlicher Gewebe und die Erreichung
einer genauen Technik bei der Analyse der menschlichen Chromosome gestatten die
Beobachtung der Strahlungswirkung auf die Chromosome.
Diese Wirkungen werden augenblicklich in mehreren Laboratorien
untersucht, und zwei Veröffentlichungen wurden kürzlich hierüber gemacht,
Bender (1957) (15) und Puck (1958) (16).
Die Technik dieser Autoren besteht darin, Kulturzellen zu bestrahlen,
die Mitosen durch Kolchizin zu verschiedenen Zeiten nach der Bestrahlung zu
blockieren und die Häufigkeit chromosomischer Anomalien in den bestrahlten
Zellen und in Vergleichszellen der gleichen Herkunft zu vergleichen.
Die häufigste Anomalie ist ein Bruch einer Chromatide, festgestellt
bei der Mitose durch einen Bruch eines einzelnen Chromosomenfadens.
Aus seinen Untersuchungen folgert Bender, daß nur 3 r ebensoviel
künstliche Brüche hervorrufen, wie sie spontan auftreten. Puck seinerseits
glaubt, daß 50 r eine genügende Dosis darstellen, um durchschnittlich einen
Chromosomenbruch pro Mitose hervorzurufen.
Man sieht hieraus, wie klein die wirksamen Dosen beim menschlichen
Material zu sein scheinen.
Bei stärkeren Dosen von 75 bis 300 r treten stärkere komplexe
Abänderungen auf: chromatische Brücken, Translokationen und Ringchromosome
können dann nach Puck beobachtet werden (16).
Nach unserer Ansicht haben nur diese schweren Veränderungen einen
wirklichen Wert. Die einfachen Brüche sind in ihrer Bedeutung durch die
Tatsache beeinträchtigt, daß die Präparierungstechnik sowie das Stadium, in
der die Zellen fixiert werden, beim Entstehen dieser Brüche eine große Rolle
spielen. Nach unserer persönlichen Erfahrung gilt: je deutlicher eine Zelle
erkennbar ist (gut getrennte Chromosomen durch hypotonischen Schock), um so
größer ist die Häufigkeit von Brüchen. Außerdem bleibt die Wirkung des
Kolchizins auf die mechanische Resistenz der Chromosomen eine Unbekannte.
Natürlich fallen diese Einschränkungen bei den großen Veränderungen, wie
reziproken Translokationen oder Ringchromosomen, die bei nichtbestrahlten
Kulturen niemals beobachtet werden, fort.
Es ist deshalb wahrscheinlich, daß, wenigstens in absehbarer Zeit,
die Gewebekulturen die Möglichkeit geben, die Strahlungsempfindlichkeit der
menschlichen Chromosome zahlenmäßig zu erfassen.
Damit haben wir das Recht zu fragen, welche Aussage über die
genetische Wirkung der Strahlen uns diese Kenntnis gestattet. Es leuchtet ein,
daß fast alle diese Chromosomen-Mutationen bei der Meiose in vivo ausgemerzt
werden, und daß sie infolgedessen keine eigentliche genetische Wirkung haben,
abgesehen von einer Verringerung der Fruchtbarkeit, die aber beim Menschen
nicht festgestellt werden kann.
Die Kenntnis der chromosomischen Krankheiten unserer menschlichen Art
wird uns eines Tages die Möglichkeit geben, eine Brücke zu schlagen zwischen
den krankhaften Merkmalen, die wir klinisch kennen und den chromosomischen
Veränderungen, die wir in vitro beobachten.
Bis heute sind, wenigstens nach meiner Kenntnis, nur zwei
Beweisstücke hierzu veröffentlicht: das eine betrifft einen Zwitter mit der
Formel XXY (Jacobs und Strong, 1959) (17), das andere den Mongolismus. Wir
haben (Lejeune, Gauthier, Turpin, 1959) (18) bei drei mongoloiden Kindern das
Vorhandensein eines überzähligen Chromosoms beobachtet, und zwar jedesmal des
gleichen. Es handelt sich um ein sehr kleines telozentrisches Körperchen,
morphologisch dem Y-Chromosom sehr ähnlich. Wenn sich diese Beobachtung in der
Folge bestätigen sollte, dann könnten wir von jetzt ab zwei chromosomische
Anomalien bei unserer Art identifizieren, die Intersexualität und den
Mongolismus. Damit besteht die Hoffnung, daß weitere Entdeckungen unsere
Kenntnis auf diesem Gebiet schnell vervollständigen werden. Dann würde die
Reproduktion einer chromosomischen Anomalie mittels Röntgenstrahlen, die wir
als Ursache einer klinischen Gegebenheit kennen, eine genaue genetische
Kennzeichnung haben.
Außerhalb der eigentlichen Chromosomen-Untersuchungen werden die
Gewebekulturen sehr wahrscheinlich auch die Möglichkeit geben. Punktmutationen
zu determinieren - sei es durch Beobachtung einer Änderung der
Antigen-Eigenschaften, wie sie oben für Mutationen in vivo diskutiert wurden -
sei es durch Selektion der biochemischen Mutanten in Mangelmilieu. Es ist
sicherlich noch verfrüht, die mögliche Entwicklung der Untersuchungen in
vitro auf dem Gebiet der menschlichen Genetik zu beurteilen, es ist aber
durchaus möglich, daß die von Carrel erfundene Technik auf dem uns
interessierenden Gebiet ebenso fruchtbar sein wird, wie die Kultur der
Neurospora crassa es für die physiologische Genetik gewesen ist.
Haut
Schlußfolgerung
Diese kurze Übersicht über die Methoden zur Feststellung
strahlungsverursachter Mutationen beim Menschen und deren Ergebnisse zwingt uns
zu der Feststellung, daß die tatsächlichen Ergebnisse sehr spärlich sind im
Vergleich zu unserem dringenden Bedürfnis nach genauen Tatsachen.
Allerdings sind die somalischen Zellen in vivo und in vitro bei
weitem noch nicht genügend erforscht, und von dieser Seite ist noch mit einer
reichen Ernte zu rechnen. Ich möchte aber abschließend auf die absolute
Notwendigkeit fortgesetzter Untersuchungen an der Nachkommenschaft bestrahlter
Eltern besonders hinweisen. Wie wir zu Beginn unserer Ausführungen gesehen
haben, handelt es sich um eine undankbare Aufgabe, und die gesammelten
Beobachtun-gen sind schwierig zu interpretieren; sie allein aber geben uns
direkte Unterlagen über die Gefahren, denen die Kinder ausgesetzt sind, wenn
ihre Eltern ionisierenden Strahlen ausgesetzt waren. Und dies ist letzten Endes
das Problem, das uns hier zusammengeführt hat.
Haut
Diskussion
(zugleich von Teil A des Referates vom Nachmittag des Vortages)
Haut
Marquardt:
Mutabilität ist ein Charakteristikum, das allen Zellen eigen ist,
also nicht nur den Keimzellen, von denen wir bisher gesprochen haben, sondern
auch den somatischen Zellen. Da die Zahl der somatischen Zellen größer ist
als die der Keimzelten, da die Einwirkungsdauer einer chronischen
Strahlenbelastung auf somatische Zellen über die ganze Lebenszeit sich
erstreckt, während bei den Keimzellen die Betastung sich immer nur für die
Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit auswirken kann, muß auch das Phänomen der
somatischen Mutation in unserem Zusammenhang berücksichtigt werden. Die
Schwierigkeit liegt darin, daß wir umdenken müssen. Wir können somatische
Mutationen nicht mit den üblichen Methoden der Kreuzungs-Genetik erfassen.
Denn charakteristisch für die somalischen Mutationen ist eben, daß sie nur in
somatischen Zellen und somit nur während der Lebensdauer eines behan delten
Individuums sich auswirken können.
Ich danke jedenfalls Herrn Lejeune sehr für seinen interessanten
Vortrag, der uns die Möglichkeit gibt, diese Seite des Mutationsgeschehens,
die man nicht vergessen sollte, überhaupt hier in Auge zu fassen.
Haut
Stodtmeister:
Ich möchte dem Vortragenden beipflichten, daß es nicht angeht, die
Leukämie ein-fach als somatische Mutation der hämatopoetischen Zellen zu
definieren. Wahrscheinlich liegen die Verhältnisse bei der Leukämie ähnlich,
wie sie von Marquardt bei der Entstehung von Malignomen an der regenerierenden
Rattenleber nachgewiesen wurden. Das würde bedeuten, daß somatische
Mutationen die Entstehung einer Leukämie zwar begünstigen können, aber nicht
zwangsläufig zur Folge haben. Die klinischen Beobachtungen, auf die ich hier
nicht im einzelnen eingehen kann, würden sich mit einer solchen Auffassung
auch durchaus in Einklang bringen lassen. Sicher bestehen auch Beziehungen zur
Dosis. Auf dem Internationalen Hämatologenkongreß in Rom 1958 zeigte der
japanische Pathologe Watanabe, daß eine Häufung von Leukämien um das
Zehnfache nur in einer bestimmten Entfernung (2000 m) vom "hypocenter" auftrat.
Außerhalb dieses Kreises war die Leukämie die gleiche wie im übrigen Japan.
Watanabe zeigte in dem gleichen Vortrag auch, daß die allgemeine Leukämierote
in Japan in den letzten Jahren signifikant angestiegen ist.
Haut
Marquardt:
Ich möchte Herrn Lejeune fragen, ob er zu diesem Zusammenhang von
Leukämien einerseits und Mutationen andererseits mehr sagen möchte, als er in
seinem Vortrag gesagt hat.
Haut
Lejeune:
Der Mechanismus der Entstehung von Leukämien durch ionisierende
Strahlen ist sicher sehr komplex. Nach den Ergebnissen von Hiroshima und von
Nagasaki sowie denen durch therapeutische Bestrahlung der Wirbelsäule (Court
Brown und Doll) ist eine Dosis von 30 bis 50 r erforderlich, um die Frequenz
der Leukämien beim Erwachsenen zu verdoppeln. Nach Stewart und Webb besteht
beim Foetus im Uterus dagegen schon bei Einwirkung von 3 r das gleiche Risiko.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Foetus tatsächlich zehnmal so empfindlich
ist wie der Erwachsene. In dem unreifen Organismus sind die Vorgänge zur
Produktion von Antikörpern wenig aktiv und man kann sich vorstellen, daß die
Wahrscheinlichkeit des Überlebens eines mutierenden Klons erheblich größer
beim Foetus als beim Erwachsenen ist.
Es ist so gut wie sicher, daß nur ein sehr kleiner Bruchteil
mutierender Zellen fähig ist, einen Klon zu produzieren, der den
Abwehrkräften des Organismus widersteht und dadurch die Leukämie auslöst.
Die lineare Beziehung: Strahlendosis/Frequenz der Leukämien ist also ein
schlechtes Maß für die Häufigkeit von Mutationen. Diese Beziehung beweist
lediglich, daß die durch Röntgenstrahlen hervorgerufenen Mutationen um so
häufiger sind, je stärker die Dosis ist, ohne daß man ihre absolute Zahl
abschätzen kann. Man stellt aber bei massiven Bestrahlungen fest, daß die
Beziehung Dosis/Häufigkeit der Leukämien eine Neigung zum Anstieg aufweist
und exponentiellen Charakter annimmt. Die Antikörper bildenden Systeme
könnten verantwortlich für diese Abweichung von der Linearität sein.
Haut
v. Verschuer:
Ich möchte Herrn Lejeune fragen, welche Meinung er über die
Entstehung und Bedeutung von Polyploiden bei Leukozyten in bezug auf das eben
hier erörterte Problem hat.
Haut
Lejeune:
Unter üblichen Kulturbedingungen erscheint ein gewisser Prozentsatz
tetraploider Zellen, im allgemeinen 2 bis 5 Prozent. Eine bemerkenswerte
Tatsache ist, daß dieser Prozentsatz bei aufeinanderfolgenden Entnahmen
konstant bleibt, was daran denken läßt, daß die Polypioiden keinen
Selektionsvorteil in vitro gegenüber dem normalen Diploiden besitzen.
Jedenfalls sind die beobachteten Polypioiden regelmäßig, d. h. die Gesamtzahl
der Chromosomen ist ein Mehrfaches von 46.
Haut
Fritz-Niggli:
Ist der Zusammenhang von schwacher Bestrahlung des Foetus in Utero
und Leu-kämie statistisch gesichert? Ich kenne nur die Ergebnisse von 1956/57.
Dabei handelt es sich um sehr kleine Zahlen, die dann von anderen Statistikern
angegriffen wurden.
Haut
Lejeune:
Die Ergebnisse von Miß Stewart (a) sind durchaus signifikant, wenn
sie sich auch auf ein indirektes Argument beziehen: "unter den Müttern von
Kindern, die an Leukämie gestorben sind, ist die Bestrahlungsfrequenz im Laufe
der betreffenden Schwangerschaft doppelt so groß wie bei Müttern von
Vergleichskindern." Die statistische Signifikanz dieses Unterschiedes kann
nicht bezweifelt werden.
(a) Stewart A., Werb J. et Hewitt D. - A survey of childhood
maligancies Brit. Med. J. vol. i, p. 1495-1508 (1958)
Haut
Fritz-Niggli:
Eine weitere Frage wegen der Polypioidie: polyploide Zellen kennt
man ja auch normalerweise bei Tieren und bei Menschen.
Haut
Lejeune:
Das ist möglich, aber beim Menschen nicht bewiesen. Es ist kein
menschliches Gewebe bekannt, das ausschließlich aus polypioiden Zellen
zusammengesetzt ist, jedenfalls soviel mir bekannt ist.
Haut
Fritz-Niggli:
Ich möchte noch einmal kurz auf die Leukämie als somatische
Mutation zu sprechen kommen. Sie ist bei Mäusen eindeutig virusbedingt und
hormonabhängig.
Haut
Lejeune:
Ja, das weiß ich.
Haut
Fritz-Niggli:
Leukämie scheint mir deswegen ein schwieriges Beispiel zu sein, wir
haben histologisch identische Mamma-Carcinome von Menschen untersucht. Sie
hatten alle verschiedene Chromosomenrassen, sowohl hyperploide als auch
Chromosomenzahlen unterhalb der Norm, z. B. 24 bis 36. Diese verschiedenen
Zellrassen stammen sicherlich kaum von Punktmutationen her, sondern von einer
Selektion chromosomengestörter Zellen, die primär durch physiologische
Störungen der Mitose, Chromosomenänderungen etc., zustande kommen. Nachher
entwickelt sich eine vitale Rasse, die durch subletale Schädigungen der
normalen Zellen selektioniert wird. Aber das Primärergebnis ist dann nicht
mehr identisch mit dem, was in den Krebszellen beobachtet wurde.
Haut
Lejeune:
Es ist wohl unvorsichtig, das einfache Schema: Krebs =
Chromosomenanomalie anzunehmen. Es ist durchaus mögtich, daß Gene existieren,
deren Wirkung die Mitose regelt. Eine Mutation an einem solchen Gen wird eine
Störung in der Chromosomenverdoppelung hervorrufen und damit zu einer
Abartigkeit (Variegation) der chromosomischen Steuerung der Zelle führen.
Vielleicht ist eine Mutation dieser Art die primäre Ursache zahlreicher
Carzinome.
Haut
Langendorff:
Da Herr LeJeune wiederholt Hiroshima und Nagasaki erwähnt hat,
wollte ich noch eine kurze Bemerkung dazu machen. Nach einer Mitteilung von
Mitarbeitern von mir, ist zu sagen, daß bezüglich der Leukämierate die
Angaben von Hiroshima nicht ganz sicher sind, denn erstens fehlt eine genaue
Dosisangabe; man weiß über die Dosen, die aufgetreten sind, sehr wenig, und
zweitens wurde bis 1945 in Japan der Totenschein von der Polizei ausgestellt,
also weiß man über die Leukämierate in Japan vor 1945 außerordentlich wenig
Bescheid. Die Frage, ob hier ein wirklich echter Anstieg der Leukosen vorliegt,
ist also nur ungenügend gesichert. Soweit mir bekannt ist, sollen in Nagasaki
mehr lymphatische Leukämien und weniger myeloische Leukämien aufgetreten
sein. Aber ich würde nach den Mitteilungen meiner Mitarbeiter, die sich
immerhin vier Monate lang mit dieser Frage in Hiroshima und Nagasaki
beschäftigt haben, sagen, daß diese Dinge noch mit großer Vorsicht angesehen
werden müssen. Mit ähnlicher Vorsicht ist auch die Frage des Anstiegs der
Leukämien bei Radiologen zu behandeln. Auch bei diesen sind ja die
Strahlendosen zu unterschiedlich, um zu einer Bewertung über die Frage des
Anstiegs der Leukämien herangezogen zu werden.
Haut
Schade:
Ich möchte fragen, ob man nicht vermuten kann, daß gewissermaßen
im physiologischen Bereich bei Soma-Zellen Veränderungen in der
Chromosomenzahl auftreten können, und zwar wenn eine pathologisch vermehrte
und schnelle Zellteilung auftritt, wie das beim Krebs und der Leukämie der
Fall ist. Können Änderungen, wie Polypioidie und Aneuploidie, wie sie bei der
Leukämie gefunden wurden, als indirekte Folge der schnelleren Zellteilung
erklärt werden? Eine zweite Frage betrifft die von Herrn Lejeune erwähnte
Verdoppelungsdosis von 3 r. Kann man da nicht denken, daß dieser Wert
eventuell darauf zurückzuführen sein könnte, daß die differenzierteren
Gewebe empfindlicher wären?
Haut
Lejeune:
Ich glaube tatsächlich, daß die genetische Homöostasie des Foetus
weniger hoch ist als diejenige des Erwachsenen. Die größere Empfindlichkeit
des unreifen Organismus dürfte kein Zellphänomen sein, sondern auf seiner
Unfähigkeit beruhen, mutante Zellen zu eliminieren.
Haut
Vogel:
Am meisten von den Befunden von Herrn LeJeune haben mich die
überzähligen Chromosomen bei den sieben mongoloiden Personen interessiert.
Nun sind aber überzählige Chromosomen beim Menschen auch normalerweise
häufig be-schrieben worden. Kodani hat bei einem relativ großen Prozentsatz
aller Menschen zwei oder ein überzähliges Chromosom beschrieben. Nun ist mir
bekannt, daß die Befunde von Kodani nicht von allen Zytologen anerkannt
werden, aber auf der anderen Seite zeigt er doch sehr überzeugende Bilder. Nun
möchte ich Sie fragen, Herr Lejeune:
1. Wie häufig haben Sie solche überzähligen Chromosomen bei
Gesunden gefunden?
2. Was halten Sie von den Befunden von Kodani, und wie kombinieren
Sie Ihre Befunde mit denen von Kodani?
Haut
Lejeune:
Wir haben niemals ein überzähliges Chromosom bei normalen
Individuen beobachtet. Mehr als 100 Individuen, die in Frankreich, Schweden,
England und Amerika untersucht wurden, hatten alle die normale Zahl von 46. Wir
sind deshalb überzeugt, daß das überzählige Chromosom der Mongoloiden einen
formellen ätiologischen Wert besitzt.
In bezug auf die Beobachtungen von Kodani (b) besteht ein
Zweifelsmoment über den Ursprung der untersuchten Testikel. Es ist keineswegs
auszuschließen, daß diese Biopsien von tatsächlich anomalen Individuen
stommen. Man könnte allerdings auch andere Erklärungen in Erwägung ziehen.
Bei Drosophila melanogaster ist das Y-Chromosom praktisch unsichtbar in
somalischen Zellen (vor allen in den Riesenzellen), dagegen besitzt es im
Keimepitel eine gut sichtbare Portion Heterochromatin. Ebenso existieren bei
einigen Arten, z. B. bei Polycetis tenuis, zusätzliche Chromosomen, die mehr
oder weniger auf das Keimepitel beschränkt sind. Immerhin stehen diese
Hypothesen im Widerspruch zu der Tatsache, daß Ford und Hamerton (c)
regelmäßig 46 Chromosomen in den Testikeln normaler Individuen gefunden
haben. Wenn also noch einige Zweifel in bezug auf das Keimepitel infolge der
besonderen Untersuchungsschwierigkeiten bestehen, so ist diese Frage in bezug
auf die somatischen Zellen endgültig gelöst. Normale Individuen haben alle 46
Chromosome, wie dies Tjio und Levan (d) zum ersten Mal vor zweieinhalb Jahren
be-hauptet haben.
(b) Kodani M. - The supernumerary chromosome of man - Am. J. Hum.
Genet. 10: 125 (1958).
(c) Ford, C. E. et Hamerton, J. L. - The chromosome of man - Nature,
178: 1020-1023 (1956).
(d) Tjio H. J. et Levan A. - The chromosome number of man -
Hereditas 42: 1-6 (1956).
Haut
Fritz-Niggli:
Können sich bei der Zucht in vitro eventuell durch Milieu-Faktoren
nicht auch die Chromosomenzahlen ändern?
Haut
Lejeune:
Wir haben nichts Derartiges beobachtet, wenn es auch durchaus
möglich erscheint. Z. B. sind die Zellen eines jungen Mongoloiden, die sieben
Monate kultiviert wurden, ohne Veränderung Träger der typischen Zahl von 47
Chromosomen geblieben. Immerhin beobachteten wir bei den systematischen
Untersuchungen nur sehr frische Kulturen, die weniger als 15 Tage in vitro
sind, um die Möglichkeit des von Ihnen erwähnten Effektes zu vermeiden.
Haut
Ulrich:
Nur ganz kurz zur Chromosomenzahl des Menschen. Bisher galt die Zahl
48, jetzt 46. Sie betonen aber, Herr Lejeune, daß diese Zahl in somatischen
Zellen gefunden wurde. Wie die Chromosomenzahlen in den Keimbahnzellen sind,
ist demnach noch nicht sicher. Könnte der Unterschied zwischen der alten
Chromosomenzahl (48) und der jetzt gültigen (46) vielleicht darauf beruhen,
daß die Keimbahn 48, das Soma 46 hat? Ich frage deshalb, weil wir bei Tieren
Fälle kennen, wo regelmäßig die Chromosomenzahl in den Kleinbahnzellen
größer ist als in den Somazellen. Dieser Unterschied kommt während der
Embryonalentwicklung zustande: Es wird jeweils eine gewisse Anzahl,
wahrscheinlich ganz bestimmter (keimbahnbegrenzter) Chromosomen aus den Kernen
der künftigen Somazellen eliminiert. Könnte das nicht beim Menschen auch so
sein? Könnten die differierenden Zahlen 46 und 48 eventuell auf dem
Vorhandensein eines Paares keimbahnbegrenzter Chromosomen beruhen?
Haut
Lejeune:
Hierzu kann icht nichts sagen. Es ist nicht unmöglich, daß ein
Chromosomenpaar besteht, das auf die Geschlechtszellen beschränkt ist.
Immerhin ist eine solche Tatsache bei den genetisch eingehend untersuchten
Säugern, wie Ratte, Maus und Hamster, nicht bekannt.
Haut
v. Verschuer:
Ich möchte ein anderes Thema anschlagen. Es betrifft die Mutationen
der Blutgruppen. Es gibt ja beim Menschen die Erscheinung der sogenannten
Chimären. In dem Buch von Race und Sanger (*) sind einige solcher Fälle aus
der Literatur beschrieben worden. Es handelt sich dabei um Menschen, die ein
Gemisch von zwei verschiedenen Blutgruppen haben. Nun ist in dem Buche von Race
und Sanger als Erklärung angeführt worden, daß es sich dabei um zweieiige
Zwillinge handelt. Eineiige Zwillinge können ja nicht verschiedene Blutgruppen
haben. Bei ihnen kommen zwar Anastomosen der Plazenta-Kreisläufe vor, aber bei
zweieiigen Zwillingen ist das nicht der Fall. Die Erklärung, die von den
Autoren gegeben wurde, besagt, daß ein Austausch während des embryonalen
Lebens stattgefunden habe. Solch ein Austausch kommt eventuell beim Rind vor,
nicht aber beim Menschen. Es ist meines Wissens noch kein Fall von Anastomosen
bei dichorischen Zwillingen beschrieben worden. Diese Erklärung von Race und
Sanger ist also für mich nicht befriedigend. Ist eine Erklärung für diese
Chimären etwa auf dem Wege der Mutation möglich?
(*) Race, R. R. und R. Sanger: Die Blutgruppen des Menschen (Blood
Groups in Man, III Ed.) Deutsche Übersetzung von Prokop (Stuttgart 1958).
Haut
Lejeune:
Das erscheint wenig wahrscheinlich, da die Antigen-Unterschiede
mehrere Blutgruppen betreffen. Man müßte dann annehmen, daß ganz zu Beginn
der Embryogenese eine Medullarzelle gleichzeitig an verschiedenen Loci mutiert
hätte. Dies ist äußerst unwahrscheinlich, übrigens sind Gefäßanastomosen
zwischen zweieiigen Zwillingen beim Rind bekannt (Fall von "free martin"). Die
Tatsache, daß sie beim Menschen unbekannt sind, kommt vielleicht nur daher,
daß man sie für unmöglich hält und aus diesem Grunde nicht nach ihnen
sucht. So etwas ist sehr häufig in der Geschichte der Wissenschaft.
Haut
Vogel:
Zur Ergänzung dessen, was Herr Lejeune gesagt hat: Ich habe vor
kurzen für eine Zeitschrift die Originalmitteilung über zwei dieser Chimären
(**) referiert, und in beiden Fällen war erwähnt, daß es sich um
nachgewiesene zweieiige Zwillinge handelt. Es sind also bisher nur Chimären
beschrieben worden, die aus zweieiigen Zwillingspaaren stammen. Man hat
allerdings umgekehrt eine größere Reihe zweieiiger Zwillingspaare auf dieses
Merkmal hin untersucht und nichts Derartiges gefunden. Da dieses Merkmal also
bisher nur bei zweieiigen Zwilligen wirklich beschrieben worden ist, erscheint
mir die Hypothese einer mutativen Entstehung unwahrscheinlich. Dagegen ist es
wahrscheinlich, daß in Ausnahmefällen Anastomosen zwischen den
Plazentar-Kreisläufen zweieiiger Zwillinge vorkommen.
(**) Über Blutchimären: Booth, P. B.; Flaut, Gertrude; James, J,
D.; Ikin, Elizabeth, W.; Moores, Phyllis; Sanger, Ruth; Race, R. R. Blood
chimerism in a pair of twins. Brit. Med. J. II: 1456-1548 (1957). Dunsford, I.;
Bowley, C. C.; Hutchison, Ann M.; Thompson, J. S.; Sanger, Ruth; Race, R. R. A
human blood-group chimera. Brih Med. J. II: 81 (1953). Nicholas, J. W.;
Jenkins, W. J.; Marsh, W. L. Human blood chimeras. A study of surviving twins.
Brit. Med. J. I: 1458-1460 (1957). Ueno, S.; Suzuki, K.; Yamazawa, K. Human
chimerism in one of a pair of twins. Acta genet. statist. med. 8: 1-7 (1958).
Woodruff, M. F. A. A human blood group chimera. Brit. Med. J. II: 1103
(1953).
Haut
v. Verschuer:
Ja, das war auch meine Auffassung, aber ich wollte doch hören, ob
hier vielleicht die Möglichkeit einer anderen Deutung gegeben wäre. Als
interessant möchte ich noch hinzufügen, daß in einem dieser Fälle
sämtliche untersuchten Blutgruppen-Systeme von dem einen auf den anderen
überführt worden sind, mit Ausnahme des Lewis-Systems, so daß man daraus
über die Theorie des Lewis-Systems wieder besondere Rückschlüsse ziehen
kann.
Haut
Marquardt:
Ich glaube, der Vortrag von Herrn Lejeune in unserer Diskussion hat
doch gezeigt, daß neben den Keimzellen-Mutationen die Bearbeitung und vor
allem die Klärung der methodischen Grundlagen, die mit dem Phänomen der
somalischen Mutationen zusammenhängen, auch für unseren Rahmen eine große
Bedeutung haben. Die Gefahr, die aus der Beschäftigung mit den somatischen
Mutationen unausweichlich kommen wird, wird die sein, daß eine ganze Reihe von
Phänomenen, die damit gar nichts zu tun haben, vorschnell mit diesem so
schönen, wohlklingenden Begriff in Zusammenhang gebracht werden. Um gerade
diese Gefahr von einer vielleicht anderen Seite her zu beleuchten, würde es
mir zweckmäßig erscheinen, wenn Herr Lehmann uns kurz über die Arbeiten des
Kieler Pathologen Doerr über Herzmißbildungen, also über embryonale
Mißbildungen referieren würde, denn bei derartigen Untersuchungen scheint die
Gefahr einer zu einseitigen Interpretation als somalische Mutationen immer
gegeben zu sein. Wir würden durch diesen Bericht dann wahrscheinlich den
ganzen Abstand sehen zwischen dem, was wir als somatische Mutationen bezeichnen
dürfen, und manchem, was ganz andersartig interpretiert werden muß.
Haut
Literaturverzeichnis
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