Die Annahme, Menschen würden chancengleich geboren, stimmt nicht. Ein
Kind, das sich aus einem befruchteten Ei mit 47 statt 46 Chromosomen
entwickelt, wird nicht normal sein. Gehört das überzählige Chromosom dem
Chromosomenpaar 21 an, so wird das Kind sein Leben lang mit einer Trisomie 21
behaftet sein.
Eine Voraussage kann sehr frühzeitig erfolgen. Eine einfache Punktion
des Amnionsackes zu Beginn des vierten Schwangerschaftsmonats erlaubt die
Entnahme von so viel Flüssigkeit, daß man eine Kultur anlegen und die Zellen
dann analysieren kann. Mit diesem stand der Erkenntnisse möchten manche die
Entscheidung begründen, daß solche Schwangerschaften abgebrochen werden
könnten.
Die Tatsachen sind uns zu nahe, die sich ergebenden Möglichkeiten zu
unmittelbar, als daß Genetiker nicht verpflichtet wären, ruhig und
wissenschaftlich ins Auge zu fassen, was man heute über den genauen
Augenblick, wann ein neues menschliches Wesen Existenz gewinnt, weiß und auf
welche Kriterien man sich dabei stützt.
Der Genetiker von heute ist wie ein Bruder des Diogenes von damals,
als er die Tonne verließ. Der einzige Unterschied mag sein, daß unsere
Laterne in der Gestalt des Mikroskops eine beachtlich modernere Ausführung
ist. Und so können wir unsere Suche im Licht der Chromosomenanalyse
beginnen.
Haut
Die menschlichen Chromosomen
Unsere erste Feststellung ist außerordentlich einfach: Alle
gegenwärtig lebenden Menschen haben die gleichen Chromosomen. Genauer: Nach
Abzug des geschlechtlichen Dimorphismus, der Chromosomen-paare XX bei der Frau
und XY beim Mann, ist in einem jeden von uns jedes Chromosomenparr
morphologisch identisch.
Die Tatsache, daß in jeder menschlichen Generation nein; Chromo
somenanomalien mit den entsprechenden Krankheiten auftreten, zeigt, mit welchem
Preis die Konstante der Chromosomen unserer Art bezahlt wird.
Gäbe es andere Lösungen, ebenso gute, vielleicht gar bessere als die
gegenwärtige genetische Konstitution, hätten sich die menschlichen Rassen in
unterschiedliche Unterarten trennen müssen, wie man es in zahlreichen
Beispielen bei anderen Säugern beobachten kann. Umgekehrt ist die Möglichkeit
der Konvergenz*) verschiedener Chromosomen äußerst unwahrscheinlich.
Wie man das Problem auch wenden mag, es scheint, daß die progressive
Evolution durch Darwinsche Variation mit den Tatsachen schwer vereinbar ist.
Sie zwingen vielmehr anzunehmen, daß der Karyotyp des Menschen, so wie wir ihn
heute kennen, ursprünglich in einer sehr begrenzten Gruppe, ja einem einzigen
Paar in Erscheinung getreten ist und sich deshalb von da an behauptet hat, weil
er die beste Lösung darstellte.
Haut
Die benachteiligten Kinder
Angesichts der Irrtümer der Natur, an denen manche Kinder leiden,
haben manche die Frage gestellt, der wir zu Beginn begegneten: Sollte man nicht
diese neuen Wesen ohne Zukunft ausschalten?
Haut
Die Maßstäbe der Auswahl
Rein von der Technik her ist die Unterscheidung von Wertvollem und
Wertlosem eine unlösbare Aufgabe. Selbst wenn man alle moralischen Bedenken
beiseite läßt und den Fötus, um dessen Leben es geht, nicht als einen
Menschen, sondern als ein Ding betrachtet.
Zunächst haben unsere Voraussagen inhaltlich nicht die
Treffsicherheit, die man annehmen möchte. Natürlich wissen wir, daß der
Fötus mit der Trisomie 21 ein anomales Kind sein wird. Aber wird sein
Intelligenzgrad zwanzig, vierzig oder vielleicht achtzig Prozent des normalen
sein? Niemand weiß das vorher.
Sicherlich sind die Frauen, die nur ein X-Chromosom haben
(TurnerSyndrom), klein und entwickeln keine sekundären Geschlechtsmerkmale,
und dennoch können sie in der Gesellschaft eine äußerst nützliche Rolle
spielen - so zum Beispiel die einer tüchtigen technischen Laborantin.
Wer an der Klinefelter-Krankheit mit dem Kerngeschlecht XXY leidet,
kann das Leben nicht weitergeben, aber der eine oder andere kann Leben retten -
so ein berühmter Chirurg in Paris, der diese Krankheit hat.
Berücksichtigt man die heutigen Palliativen Behandlungsmöglichkeiten
dieser beiden Krankheiten, so bedeuten sie für ihre Träger fast nur eine
dauernde und nicht zu behebende Unfruchtbarkeit.
Dem, der sich damit beschäftigt, drängt sich auf, daß die Kranken,
die auszudrücken vermögen, was sie empfinden, zwar die Krankheit beklagen,
unter der sie leiden, niemals aber bedauern, sie selbst zu sein und zu
leben.
So können wir zurückkehren zu unserer Ausgangsfrage: Wann beginnt
ein Mensch?
Haut
Das Individuum
Definieren wir ein Individuum nach seinen beiden Wesensmerkmalen,
nämlich eines zu sein und einzig zu sein, können wir mit Hilfe der Pathologie
das Stadium ermitteln, in dem diese beiden Qualitäten endgültig erworben
sind, das heißt von dem an sie durch kein Ereignis mehr durchbrochen werden
können.
Haut
Die Chimären
Es ist bekannt, daß bestimmte Kranke, die Hermaphroditen, Chimären
sind, die gleichzeitig männliche und weibliche Geschlechtsdrüsen, Hoden und
Ovarien, besitzen. In der äußeren Erscheinung spiegelt sich das Zwitterhafte.
In diesen Fällen findet man in allen Geweben des Organismus männliche
XY-Zellen neben weiblichen XX-Zellen.
Diese beiden Zeltstämme weichen in vielen Erbmerkmalen voneinander
ab. Gelegentlich kann man nachweisen, daß alle XY-Zellen einer bestimmten
Blutgruppe angehören, während alle XX-Zellen zwar untereinander gleich, aber
einer anderen Blutgruppe zugehörig sind.
Es ist, als ob das Wesen das Ergebnis einer vollständigen
Verschmelzung von Zwillingen wäre, eines Jungen und eines Mädchens, in einem
einzigen Individuum.
Wenn der Mechanismus dieser Verschmelzung wirklich so abläuft, wie
man heute annimmt, erfolgt die Fusion um die Zeit der Befruchtung, indem die
Eizelle selbst und eines der Polkörperchen gleichzeitig befruchtet werden, je
von einem Spermatozoon.
Jedenfalls können solche Zwitter, in denen zwei Naturen zu einer
Person verschmelzen, nur innerhalb von Stunden, bestenfalls von Tagen, nach der
Befruchtung entstehen. Dieses Phänomen wirft merkwürdige Fragen auf.
Es ist gelungen, voll lebensfähige, wenn auch merkwürdig aussehende
Mäuse zu züchten, die gleichzeitig mehrere Väter und Mütter haben, da man
die Stammzellen verschiedener Embryonen zur Verschmelzung miteinander brachte.
Die schönste Maus, die ich kenne hatte vier Väter und vier Mütter.
Solange in unserer Art die guten alten Sitten fortdauern, braucht man
solche Monstrositäten nicht zu befürchten. Dennoch ist es sehr wohl möglich,
daß manche normale Individuen das Resultat der Verschmelzung von zwei
befruchteten Eizellen sind, die beide XX- oder beide XY-Zellen waren.
Diese Annahme ist formell nach nicht bewiesen. Es bleibt aber durchaus
wahrscheinlich, daß der eine oder andere von uns die reine Abstammung, die er
sich vorstellte, nicht besitzt, vielmehr ein harmonierender Zwitter aus der
wahlgelungenen Verschmelzung von zwei Zehrassen ist.
Haut
Zwillinge
Ohne in eine statistische Beweisführung einzutreten, ist grundlegend
zu sagen, daß die Zahl der möglichen genetischen Kombinationen weit über die
Zahl der Menschen hinausgeht, die heute leben und jemals gelebt haben. Jeder
Mensch besitzt eine einmalige Genkombination, die es nach nie gab und die es
nie mehr geben wird. Dennoch zeigt die Existenz eineiiger Zwillinge, daß die
einzigartige Natur zwei und gelegentlich sogar mehr Personen gemeinsam sein
kann.
Tritt bei der Trennung gleichzeitig eine Chromosomenveränderung auf,
kann es geschehen, daß einer der Zwillinge sich aus den normalen Zellen und
der andere sich aus den veränderten Zellen entwickelt. Solche Zwillinge sind
wohlbemerkt außerordentlich selten. Trifft die Veränderung zufällig das
Chromosom 21, so wird wohl der eine Zwilling normal sein und der andere ein
überzähliges Chromosom 21 haben. Der Kranke ist dann ein exaktes Abbild
seines Bruders, nur selbst von der bekannten Krankheit gezeichnet.
Ist das Y-Chromosom von der Abweichung betroffen, so wird der
Unterschied zwischen den Zwillingen, auch wenn sie sonst identisch sind,
außerordentlich groß.
Ausgehend von einer XY-Zelle müßte es eigentlich zu einer Geburt
eines Jungen kommen. Nun kann es geschehen, daß bei der Trennung einer der
Zwillinge das Y-Chromosom nicht enthält, weil es bei einer anomalen
Zellteilung verlarenging. Dann kommt es zur Geburt eines völlig normalen
Jungen und eines Mädchens, das sich als Trägerin eines einzigen X-Chromosoms
nicht zur normalen Frau entwickeln wird.
Bei einem solchen Paar litt das junge XO-Mädchen unter einer höchst
merkwürdigen psychischen Störung. Wenn es in den Spiegel schaute, meinte es,
seinen Bruder zu sehen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Wahnidee.
Dieses Erleben verrät eine außergewöhnliche Intuition für den äußerst
komplexen genetischen Sachverhalt. In der Tat ist für den Gentiker dieses
junge Mädchen genaugenommen ein Fragment seines Bruders, in dem es sich voll
ausgebildet findet.
Haut
Die Information der MaterieHaut
a) Der molekulare Gesichtspunkt
Mit der komplexen Maschinerie der kodierten Moleküle wie
DNS-RNS-Eiweiße) sind wir sicher, daß das Band, das die Eltern mit ihren
Kindern verbindet, die materielle Natur ist.
Und trotzdem wissen wir, und zwar mit derselben Sicherheit, daß
kein Molekül, nicht ein einziges Atom das sich in der befruchteten Eizelle
findet, eine nach so geringe Chance hat, auf die Folgegeneration übertragen zu
werden. Das ist Sache einer einfachen arithmetischen Beweisführung. Es ist
ganz offensichtlich, daß das, was übertragen wird, eine "Form", ein
"Akzidenz" der Materie ist, jedenfalls nicht die Materie als solche.
Dieser offenbare Widerspruch ist Grundlage eines jeden
Reproduktionsvorgangs. Eine Statue kann nicht aus dem Nichts geschaffen werden,
sondern es bedarf eines materiellen Substrats: Marmor, Bronze oder Ton.
Betrachten wir eine Abgußreproduktion, so ist der Zusammenhang zwischen
Original und Wiedergabe eindeutig die materielle Deckungsgleichheit. Und
dennoch ist es weder der Marmor, noch die Bronze, was vier wiedergegeben wurde:
Vielmehr ist es die Form, oder genauer: die Information, die der Genius des
Bildhauers der Materie aufgeprägt hat.
Dieser Begriff der Übertragung der Information ist in vollem Umfang
auf die Biologie anwendbar: Denn wir wissen, daß die befeuchtete Eizelle aus
sich selbst eire vollständiges Individuum entwickelt. Dies geschieht nach
einem zwar höchst komplizierten und empfindlichen, aber vollständig
determinierten Mechanismus. Daß diese Entwicklung im Mutterleib stattfindet,
spielt für diese Feststellung keine Rolle, wie sich beim Hühnerei leicht
zeigen läßt.
Alles in allem wird der Theoretiker um so früher die
Vollständigkeit der genetischen Konstitution ansetzen müssen, je
materialistischer und deterministischer seine Auffassung vom Leben ist.
Denn betrachtet man den Menschen als einfach wachsende Materie,
deren Natur vollständig determiniert ist durch die Information, die die Teile
enthalten, dann beginnt ein Mensch in dem Augenblick, in dem die ganze
erforderliche und ausreichende Information beisammen ist, und das heißt: bei
der Befruchtung.
Man könnte anführen, daß die Information der ersten Zelle zwar
die Essenz des Menschen, nicht aber seine Existenz bestimmt. Dies aber kann nur
für eine sehr kurze Zeit gelten, wenn man zugibt, daß die Existenz nichts
anderes ist als die Essenz in Aktinn. Tatsächlich ist aber jede Weitergabe von
Information bereits die Aktion seiner Essenz, und hiernach beginnt dann der
Mensch mit der ersten Synthese kodierter Moleküle.
Die entscheidende Feststellung ist die, daß, weil es keine neue
Information gibt, die die Eizelle nach der Befruchtung aufnimmt, alle
Information notwendigerweise von Anfang an bereits vollständig enthalten
ist.
Haut
b) der pragmatische Gesichtspunkt
Mancher mag denken: Nun laßt uns einmal praktisch sein und die
Tatsachen sehen, wie sie sind.
Bevor der Embryo eine erkennbare Gestalt annimmt, gibt es doch
lediglich einen Zelthaufen, der sich zwar schnell teilt, aber in nichts einem
Menschen ähnlich sieht. Das ist nicht mehr als ein Stück Fleisch. Sehr
wertvolles Fleisch, weil sich daraus ein Mensch entwickeln könnte, was aus
einer Gewebekultur aller aus einem Körperteil nicht möglich wäre. Aber es
ist kein Mensch, es sind eben Zeltverbände.
Um den Augenblick zu bestimmen, von dem an man dann gezwungen wäre,
das "Ding" doch für einen Menschen zu halten, kann man verschiedene Kriterien
ins Feld führen.
Die einen werden verlangen, daß einige Hauptorgane bereits
differenziert sein müßten, zum Beispiel das Herz - das wäre nach 21 Tagen;
daß zum Beispiel der Fötus lächeln könnte - das wäre nach drei Monaten;
oder daß der Fötus allein leben könnte - das wäre nach sechseinhalb
Monaten; vielleicht, daß der Fötus die Mutter normal verläßt - das wäre
nach neun Monaten. Meist setzt die Geburt der Diskussion schließlich ein Ende.
Man maß jedoch zugeben, daß dieser einzige alle überzeugende Beweis
reichlich spät erbracht wird, denn inzwischen ist das "Ding" so groß
geworden, daß es selbst imstande ist, seinen Anspruch auf Menschsein
anzumelden.
Das ist nicht ironisch gemeint. Die Schwierigkeiten, für das
Menschwerden einen pragmatischen Zeitpunkt festsetzen zu wollen, darf man nicht
belächeln. Untersucht man das geistige Anliegen, das hier zum Ausdruck kommt,
so zeigt sich, daß man nach allem und trotz allem nicht umhinkommt, eine
Antwort auf die Frage zu finden: Von welchem Augenblick an darf man sicher
sein, daß diese Zeltmasse beseelt ist von einer menschlichen Natur?
Wir alle wissen, daß seinerzeit die Theologen bereits sehr viel
Tinte über die Beseelungstheorien verschrieben haben.
Immerhin ist es sehr erstaunlich, daß wir im Verlauf dieser
Überlegungen dort angelangt sind, wo der Materialist eine Theorie der
Information vorlegt, die einem physischen Abbild der "Fleischwerdung des
Wortes" recht nahe rückt, und wo der Pragmatiker sich auf die Suche nach den
ersten Anzeichen der Beseelung begibt.
In der Meinung, alles einfacher zu machen, sind wir ausgegangen von
der Frage: Wann beginnt ein Mensch?, und das schien uns eine sehr klare Frage.
Wären wir aber nicht besser beraten gewesen, an den Anfang die dringende
Forderung nach einer Definition zu stellen: Was ist ein Mensch?
So gelangen wir an den Ausgangspunkt zurück, von dem wir vor 2000
Jahren gestartet sind. Unsere Diogenes-Generation darf getrost ihre
mikroskopische Laterne löschen und in die Tonne zurückkehren. Auch sie hat
nicht entdeckt, wo und wann man den Menschen findet.
Und dennoch werden täglich anomale Kinder geboren, und ratlose
Eltern bedürfen der Hilfe. Stimmen werden laut, die verlangen, daß die
Genetiker die Mittel zur Verfügung stellen, damit man diese Anomalen im Bauch
ihrer Mutter erfassen kann, und sie versuchen uns zu überreden, der technische
Fortschritt erfordere dieses neue Massaker unschuldiger Kinder.
Angesichts dieses Chromosomenrassismus darf der Genetiker sich nicht
in die Alternative der Wahl zwischen der Rolle des Hemdes und des Pilatus
drängen lassen. Vielmehr stehen ihm zwei Auffassungen von der Wissenschaft zur
Wahl.
Nach der einen ist die Forschung abgeschlossen. Diese Krankheiten
werden als unabwendbar und unheilbar abgetan. Es bleibt nichts, als sich mit
den Schlägen des Schicksals abzufinden.
Nach der anderen haben die Entdeckungen eben erst begonnen. Das
unglückliche Schicksal maß gewendet werden. Und die Ärzte stehen auf der
Seite der Betroffenen.
Zwischen diesen beiden Alternativen hat die Medizin sich seit sehr
langer Zeit entschieden. Seit jeher kämpft sie gegen die Krankheit und gegen
den Tod, für die Gesundheit und für das Leben. Denn selbst, wenn die Natur
verurteilt, besteht die Aufgabe des Arztes nicht darin, zu vollstrecken,
sondern darin, nach Kräften den Vollzug zu mildern.
Haut
Note
*) Konvergenz: begriff aus der Evolutionslehre, nach dem weit entfernte
Arten bei gleicher Umwelt ähnliche charakteristische Merkmale entwickeln, wie
beispielsweise Flossen bei Fischen, Schnecken und Meeressäugern.
|