Bei einer systematischen Suche nach Anenzephalien für
Chromosomenuntersuchungen wurde das am 23.1.1970 in der Westfälischen
Landesfrauenklinik geborene Kind S. W. erfaßt und gemeldet. Es wies bei der
Geburt ein Gewicht von 2550 g und eine Länge von 48 cm auf, mit 8 Monaten wog
das Kind 6400 g und war 57,5 cm lang. Der Allgemein- und Ernährungszustand
waren als befriedigend anzusehen.
Befunde: Direkt oberhalb des Gesichtsschädels weicht die Stirn stark
zurück, die Meningoenzephalocele wies bei der Geburt eine Breite von 8 cm und
eine Länge von 10 cm auf. Bei einem Alter von 6 Monaten hatte die
Enzephalocele einen Umfang von 32 cm, eine Länge von 10 cm, die Verbindung mit
dem Kopf einen Umfang von 20 cm (Abbildung 1). Der dem Kopf zugewandte Teil ist
behaart, aus den abgelegenen Teilen entleert sich an livide verfärbten Stellen
gelegentlich helle Flüssigkeit; der Celeninhalt fluktuiert. Für ein
Pneumenzephalogramm wurde die Enzephalocele am 19. 8. 70 punktiert und im
Austausch gegen 15 ml Luft eine anfangs recht zähseröse Flüssigkeit
abgesaugt. Es konnten einzelne lufthaltige Inseln und ein dazwischenliegender
dichter Weichteilschatten, der Hirngewebe in der Meningocele vermuten ließ,
dargestellt werden.
An beiden Ohren findet sich zwischen Tragus und Helix ein kleiner
Fistelgang (Fistula auris congenita). Im Lumbalbereich ist ein auffälliger
sogenannter Mongolenfleck von dunkelblauer Farbe mit einem Durchmesser von 1,5
cm zu erkennen; im Bereich dieses Flecks ist die Behaarung deutlich verstärkt.
Die inneren Organe, insbesondere Herz und Lunge, weisen keine Besonderheiten
auf. Mißbildungen anderer Art, Vierfingerfurche oder andere Stigmata fehlen.
Die Befunde der Papillarleisten wurden bereits veröffentlicht (5), auch sie
ergaben keinen auf eine Chromosomenanomalie hindeutenden Befund.
Untersuchungsbericht vom 18.8. 1970: Das Kind liegt meist mit
gestreckten Armen und Beinen da und winkelt sie nur selten an. Die Arme sind
nach innen rotiert, die Fäustchen geballt, die Daumen befinden sich außen.
Arme und Beine werden fast immer symmetrisch bewegt. Im Hüftgelenk besteht
eine Abduktionshemmung. Die Muskulatur ist hyperton, es besteht deutliche
Spastik. Spontanes Zugreifen der Hände kann nicht festgestellt werden. Das
Kind ist auffallend empfindlich bei Geräuschen und Berührung. Die Augen
bleiben geschlossen, der Kopf wird in Opisthotonusstellung gehalten.
Reflexe:
1. Patellarsehnenreflex beiderseits gut auslösbar, seitengleich.
2. Bauchdeckenreflexe positiv.
3. Galant-Reflex nicht auslösbar.
4. asymmetrisch-tonischer Nackenreflex beiderseits negativ.
5. Saug- und Schluckreflex positiv.
6. Greifreflex palmar beiderseits negativ. Hand schließt sich nicht.
Es wird auch nicht zugegriffen.
7. Greifreflex plantar undeutlich, jedoch wohl als negativ zu werten,
da kurze Zehen bei dicker Fußsohle.
8. Magnet-Reflex negativ.
9. Bauer-Reaktion negativ.
10. Fluchtreflex auf den Fußsohlen positiv. Die Arme dagegen wurden
bei Schmerzreiz nicht weggezogen.
Der Suchreflex ist wohl als positiv zu werten, denn der Mund wird
geöffnet, das Kind macht schmatzende Bewegungen, und auch der Kopf wird etwas
bewegt. Der Glabellareflex läßt sich wegen der fast dauernd geschlossenen
Augen nicht durchführen. Alle übrigen Reflexe ließen sich wegen der
Meningoenzephalocele nicht prüfen, dazu gehren besonders alle Reflexe in
Bauchlage, der Moro-Reflex und die Landau-Reaktion. Ferner lassen sich alle
Untersuchungen bezüglich der groben Motorik, der Feinmotorik und Adaption und
des sozialen Kontaktes nicht durchführen. Eine Ausnahme in positiver Hinsicht
macht das Kind lediglich in der Reaktion auf Rasselgeräusch. Da sich das Kind
als lebensfähig erwies, wurde es aus Gründen der besseren Pflege eine
Operation zugeführt.
Operationsbefund: Die am 20. 10. 1970 ins Knappschaftskrankenhaus
Bochum-Langendreer (Chefarzt: Dr. Klug) operativ abgetragene
Meningoenzephalocele enthielt in ihrem oberen und unteren Pol insgesamt etwa
250 cm3 Flüssigkeit. In diesen Abschnitten war vorher eine positive
Diaphanoskopie möglich gewesen. In den mittleren Abschnitten enthielt die Gele
Hirngewebe, das rnakroskopisch den beiden Okzipitallappenpolen des Großhirns
entsprach. Der hintere Teil der Falx cerebri schien erkennbar zu sein. Es lagen
auch Ventrikelräume frei, die den Hinterhörnern der Seitenventrikel
entsprochen haben dürften. Kleinhirn- oder Stammhirnanteile enthielt das
Gebilde makroskopisch nicht. Die abgetragene Meningoenzephalocele wog ohne den
abgelassenen Liquor noch 280 g.
Es wurden wiederholt Bindegewebskulturen der Haut und
Leukozytenkulturen nach den üblichen Methoden angesetzt.
Chromosomenbefund: Insgesamt wurden 115 einwandfrei auswertbare
Metaphasen analysiert. Die Ergebnisse sind aus der Tabelle 1 zu entnehmen.
 Abb. 1a und b. Das Kind mit Meningoenzephalocele im Alter von 6
Monaten.
Tab.1. Chromosomenbefunde
Chromosomenzahl | 44 | 45 | zusammen |
analysierte Metaphasen in
Leukozyten | 24 | 69 | 93 |
analysierte Metaphasen in
Fibroblasten | 2 | 20 | 22 |
insgesamt | 26 | 89 | 115 |
In den Zellen mit nur 44 Chromosomen fehlt je ein Chromosom der Gruppe
D und der Gruppe E. Auch bei der stammlinie mit 45 Chromosomen fehlen diese
beiden Chromosomen. Es findet sich jedoch ein Extra, das aus einer
Translokation D/ E besteht (Abbildung 2), Durch eine genauere Analyse lach dem
Hitze-Denaturierungsverfahren konnte die Diagnose auf eine Translokation eines
langen Armes von 18 auf 14 eingeengt werden.
Überraschenderweise ist das Kind trotz seiner schweren Mißbildungen
und der starken Chromosomenabweichungen lebensfähig. In diesem Zusammenhang
ist wohl von Bedeutung, daß ein Mosaik vorliegt und daß bei der Analyse der
Fibroblasten nur ein geringer Teil mit der doppelten Monosomie gefunden
wurde.
 Abb. 2. Karyotyp mit D/E-Translokation.
Haut
Diskussion
Bei dieser Art der Translokation handelt es sich um eine partielle
Monosomie, wie sie erstmalig von Puschel, Schade und Schneller (4) bei einem
Kind mit multiplen Mißbildungen mit C/F-Translokationen beschrieben wurde. Da
bei einem Teil des Fälle mit Anenzephalie von Kabarity eire doppelte Monosomie
vermutet wird (unveröffentlicht), könnte man annehmen, daß es sich bei dem
vorliegenden Krankheitsbild um eine Vorstufe zur Anenzephalie handelt, die
deswegen lebensfähig ist, weil gleichzeitig das Mosaik reit unvollständiger
Monosomie vorhanden ist. Leider kannten die Chromosomenbefunden bei
Anenzephalie bisher nicht bestätigt werden.
Eine D/E-Translakation mit 45 Chromosomen wurde von Townes und Ziegler
(6) beschrieben. De Grouchy und Mitarbeiter (2) fanden bei dem Vater eines
Anencephalus eine Translokation bei Chromosomen der Gruppe D, wobei das eine D
außergewöhnlich lang, das andere abnorm kurz war. Zellweger und Mikamo (7)
vermuteten eine Translokation 14/18 bei einem stark retardierten Kind mit
leichtem Epikanthus, hohem Gaumen, Kryptorchismus und generalisierter
Muskelhypertonie. Breibart und Mitarbeiter (1) nahmen ebenfalls eine
D/E-Translokation bei einem Jungen mit Krampfanfällen und Mikrozephalie an.
Eine familiäre D/ E- Translokation wurde von Migeon und Young (3)
be-schrieben. Bei einem Kind mit nicht balancierter Translokation fanden sich
Mikrozephalie, Spitzbogengaumen, Nackenfalte, Vierfingerfurche, Klinodaktylie
und bei der Obduktion eine Agenesie des hinteren Anteils des Corpus callosum
und der peripheren Riechbahnen. In den erwähnten Fällen aus der Literatur ist
von Interesse, das auch bei den dort beschriebenen D/E-Translokationen
Mikrozephallen beobachtet wurden.
Haut
Literatur
(1) Breibart, S., D. J. Mellmann, W. R. Eberlein: A 13-15/18
chromosome Iranslokation. J. Pediat. 63 (1963), 712.
(2) De Grouchy, I., H. E. Brissaud, G. Reporché, M. Lamy:
Anencephalie familiale et translocation de deux chromosomes 13-15. C. R. Acad.
Sci. (Paris) 259 (1964), 691.
(3) Migeon, B., W. J. Young: Reciprocal (D, E) translocation. emploid
transmission in three generations. Bull. Johns Hopk. Hosp. 115 (1964), 379.
(4) Püschel, E., H. Schade, L. Schneller: Multiple Mißbildungen bei
heterozygoter Translokation mit 45 Chromosomen. Med. Welt (Stuttg.) 16 N. F.
(1965), 67.
(5) Schade, H.: Hautleisten und auto-somale Aberrationen. In: Hirsch,
W. (ed.): Hautleisten und Krankheiten, II. Kolloquium (Berlin 1970).
(6) Townes, P. L., N. A. Ziegler: D/E (13-15/17-18) Translocation.
Occurrence in an infam with 45 chromosomes. Amer. J. Dis. Child. 110 (1965),
686.
(7) Zellweger, H., K. Mikamo: Autosomal cytogenetics. Helv. paediat.
Acta 16 (1961), 670.
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