Die Weitergabe des Lebens ist sehr paradox. Wir wissen mit Sicherheit,
daß das Band, welches Eltern und Kinder verbindet, materieller Natur ist, denn
das neue Lebewesen geht aus dem Aufeinandertreffen zweier Zellen hervor, der
mütterlichen Eizelle und der väterlichen Samenzelle. Aber wir wissen mit
gleicher Sicherheit, daß keines der Moleküle, keines der Atome, welche die
Ursprungsquelle bilden, der nächsten Generation weitergegeben wird. Es wird
nicht die Materie übertragen, sondern eine Abwandlung davon, präziser: die
Form. Dieser augenfällige Widerspruch verblaßt bei der Beobachtung, daß er
allen Reproduktionsvorgängen gemein ist, den natürlichen und den
künstlichen.
Sicherlich ist die Reproduktion von Lebewesen etwas unendlich Feineres
als die einer unbeseelten Form, aber sie vollzieht sich nach denselben Regel,
wie uns ein bekanntes Beispiel zeigt. Auf einem Tauband kann man durch kleinste
Lageveränderungen der Magnetteilchen eine Zeichenreihe einschreiben, die
beispielsweise einer Symphonieaufführung entspricht. Wenn man ein solches Band
abspielt, bringt es wieder die Symphonie hervor, obwohl weder das Tonbandgerät
noch das Band Instrumente enthalten. Das Musikstück wurde in eine codierte
Botschaft umgesetzt, die ganze Funktion des Tonbandgerätes besteht im
Entziffern dieser Botschaft gemäß den Regeln, welche denen entsprechen, die
seiner Herstellung zu Grunde lagen.
So etwa verhält es sich mit dem Dasein. Das aufnehmende Band ist
unglaublich fein, denn es wird vom DNS-Molekül dargestellt, dessen Kleinheit
unser Begriffsvermögen übersteigt. Um eine Vorstellung zu geben: Wenn man
alle DNS-Moleküle von drei Milliarden Menschen vereinigte, hätte diese
Materienmenge in einem halben Fingerhut Platz. Man kann die ursprüngliche
Zelle mit einem Tonbandgerät vergleichen, das von seinem Band die Impulse
erhält, sobald der Mechanismus in Gang ist.
Gemäß der striktest deterministischen Analyse geht der Beginn des
Lebens ganz exakt auf die Befruchtung zurück und das ganze Leben ist nur die
Durchführung des einfachen Themas.
Daß diese Rückführung des Menschen auf sein eigenes Wesen
zufriedenstellen kann, hängt ausschließlich vom Vertrauen in die Erkenntnis
der Phänomene ab. Sicher kann der Theoretiker der Molekularbologie zu abstrakt
erscheinen, wenn er das Leben als einen Logos definiert, der die Materie
beseelt, aber es ist nicht sicher, daß das von seiner Seite eine Anmaßung
ist.
Daß es eine Menschennatur gibt, ist leicht ersichtlich, selbst wenn
wir nicht die ungeheure Zahl der Informationen entziffern können, die in den
DNS-Molekülen enthalten sind. Tatsächlich sind diese winzigen Fäden in
Zellelemente eingepaßt, die mit einem gewöhnlichen Mikroskop gut zu sehen
sind, in die Chromosomen. Die Tatsache, daß vom Chinesen bis zum Patagonier,
vom Lappen bis zum Buschmann alle Menschen dieselben Chromosomen haben, zeigt
uns, daß sie alle von den selben Vorfahren abstammen.
Das Studium der Chromosomen ermöglicht es uns, den Beginn jedes
Menschen zu ermitteln. Sobald wir dieses Wort Mensch aussprechen, tritt eine
zweifache Vorstellung von ihm zutage, die vom Individuum, das eine Einheit
darstellt und einzig ist: eine Einheit, weil es in allen Teilen es selbst ist,
und einzig, weil man es nicht durch ein anderes ersetzen kann.
Die Wissenschaft kann uns sagen, bis zu welchem Entwicklungsstadum die
Individualität noch strittig sein könnte. An einem äußerst seltenen Fall
aus der Pathologie können wir es studieren. Als ganz große Ausnahme kommt es
vor, daß bestimmte Menschen dicht nebeneinander männliche Zellen (erkennbar
an ihren Chromosomen X und Y) und weibliche Zellen (erkennbar an ihren zwei
X-Chromosomen) aufweisen und gleichzeitig mit allen männlichen und weiblichen
Attributen ausgestattet sind. Man möchte meinen, daß zwei befruchtete Eier,
das eine zu einem Jungen, das andere zum Mädchen bestimmt, sich fest vereinigt
hätten. Es ist gelungen, jenen Irrtum der Natur bei Tieren, vor allem bei der
Maus, zu reproduzieren, um ihn gut beobachten zu können.
Wenn man Zellen zusammenbringt, welche man von extrem jungen Embryonen
verschiedener Kreuzungen abgehoben hat, kann man "zusammengesetzte" Individuen
erhalten. Die Auswahl von Eltern mit verschiedenem Pelz läßt den mehrfachen
Ursprung dieser Schimären dank der schachbrettartigen Färbung des Pelzes
erkennen. Diese Versuche lehren uns, daß die Durchbrechung der Regel des
Individuums nur bis zu einem extrem frühen Stadium auftreten kann.
Neben dieser Zusammensetzung, die gegen die Einheit des Individuums
verstößt, kann man sehr gut ihr Gegenstück erkennen. Es mißachtet die
Regel, daß jeder von uns einzig ist, indem man eine einzige Natur in mehrere
Personen aufteilt.
Eineiige Zwillinge, hervorgegangen aus dem selben befruchteten Ei,
besitzen genau das gleiche genetische Erbgut. Andererseits ist es klar, daß
jeder von ihnen ein Individuum in sich ist. Hier erfahren wir durch Experimente
kaum großen Auf schluß und wir sind darauf angewiesen, aus unseren
embryologischen Kenntnissen eine einfache und einleuchtende Folgerung zu
ziehen. Es ist ziemlich sicher, daß nach der Einrüstung in der Gebärmutter,
die etwa sechs bis sieben Tage nach der Befruchtung vor sich geht, diese
Teilung eines Eies in zwei getrennte Individuen praktisch unmöglich ist. In
jedem Fall setzt die Anlage des primitiven Neuralrohrs, die endgül tig diese
Trennung ausschließt, die absolute Grenze bei ungefähr zwölf bis dreizehn
Tagen nach der Befruchtung. Soweit Mutmaßungen möglich sind, scheint es so,
daß die Spaltung eines gemeinsamen Eies wahrscheinlich gleichzeitig mit der
ersten Zellteilung abläuft, d. h. im Augenblick des Zusammentreffens der
väterlichen und mütterlichen Chromosomen.
Die Beobachtungen über das Individuum bekräftigen vollständig die
Vorstellung des Theoretikers der Molekularbiologie, daß der Mensch extrem
früh beginnt, nämlich in seinem ersten Anfang.
Diese rein theoretischen Vorstellungen können bisweilen direkt
gewonnen werden, wie uns folgender Sonderfall zeigt. Ein nur in einigen
Beispielen bekannter Sonderfall tritt bisweilen bei Zwillingen auf. Bei der
Zweiteilung eines befruchteten Eies männlichen Geschlechts kann es vorkommen,
daß der eine Zwilling das angemessene Erbgut erhält und ein Junge wird,
während der andere das Y-Chromosom nicht bekommt, das bei der Trennung
verloren ging. Dieser unvollständige Zwilling, der ein einziges X-Chromosom
besitzt anstatt zwei (im übrigen aber alle Chromosomen, die nicht das
Geschlecht betreffen), kann sich nicht zu einer vollständigen Frau entwickeln.
Zwar haben die Träger eines einzigen X-Chromosoms weibliche Konstitution,
besitzen jedoch keine Ovarien, es entwickeln sich auch keine sekundären
Geschlechtsmerkmale.
Zurück zum Beginn des Menschen. Ist diese erste Zelle, die sich
teilt, diese kleine Maulbeere, die sich bald in die Gebärmutterwand einnistet,
schon ein von seiner Mutter verschiedener Mensch? Nicht allein seine genetische
Individualität ist ganz gewiß vorhanden, sondern dieser winzige Embryo kann
am sechsten oder siebenten Tag seines Lebens, mit eineinhalb Millimeter
Gesamtgröße, schon sein eigenes Schicksal bestimmen. Er und nur er regt mit
einer chemischen Botschaft den Gelbkörper des Ovariums zu dessen Funktion an
und setzt den Monatszyklus der Mutter aus.
15 Tage nach dem Ausbleiben der Regel mißt der Mensch viereinhalb
Millimeter. Sein winziges Herz schlägt schon seit einer Woche, seine Arme und
Beine, sein Kopf und Gehirn sind angelegt.
Mit 60 Tagen mißt er vom Kopf bis zur Spitze seines Hinterteils
ungefähr drei Zentimeter. Zusammengerollt hätte er in einer Nußschale Platz.
Aber: Er ist sozusagen fertig. Hände, Füße, Kopf, Organe, Hirn, alles ist an
seinem Platz und entwickelt sich bloß weiter. Man schaue näher hin und man
kann schon die Linie der Hand lesen. Man schaue noch näher hin und man kann
seine Fingerabdrücke entziffern. Das Geschlecht erscheint noch nicht eindeutig
bestimmt. Aber man betrachte die Geschlechtsdrüse ganz genau, schon entwickelt
sie sich beim Jungen als Hoden, beim Mädchen als Ovarium.
Der unglaubliche Däumling, ein Mensch, kleiner gis der Daumen,
existiert wirklich. Aber funktioniert mit zwei Monaten schon das Nervensystem?
Ja, denn wenn die Oberlippe mit einem Haar berührt wird, rührt er seine Arme,
seinen Rumpf und seinen Kopf in einer Fluchtbewegung.
Mit drei Monaten, wenn wieder ein Haar seine Oberlippe berührt, dreht
er den Kopf, schielt, legt die Stirn in Falten, schließt die Händchen und die
Lippen, lächelt dann, öffnet den Mund und trinkt einen Schluck
Amnionflüssigkeit. Bisweilen übt er sich auch kräftig im Brustschwimmen. Mit
vier Monaten bewegt er sich so lebhaft, daß die Mutter seine Bewegungen
wahrnimmt. Dank seiner Quasi-Schwerelo sigkeit macht er viele Purzelbäume.
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